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Manche Forscherinterviews sind in 30 Minuten abgehakt. Alle Fragen beantwortet, messerscharf die Antworten in den Block diktiert, fertig ist die Laube. Mit Enrico Ruge-Hochmuth war das anders. Aus dem Projektleiter der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) sprudelte es 80 Minuten lang förmlich nur so heraus.
Die Sächsisch-Thüringische Industrie- und Gewerbeausstellung (STIGA) im Jahr 1897 ist seit seiner Jugendzeit seine Leidenschaft und man merkt es mit jedem Satz, ja mit jedem Wort. Es scheint kaum einen Aspekt zu geben, den Ruge-Hochmuth zu dieser und weiteren Ausstellungen zu der Zeit in Leipzig nicht kennt.
Im Clara-Zetkin-Park hat er bereits eine Informationsstele zur STIGA gestaltet. 125 Jahre nach der Ausstellung hat er mit der HTWK und zahlreichen weiteren Leipziger Akteuren ein Programm zur Erinnerung an die Ausstellung konzipiert.
Für die Leipziger Zeitung gewährte er einen intensiven Einblick in die Ausstellung, die Leipzig verschiedentlich verändern sollte und nicht unumstritten ist. Zum einen, weil dort auch Menschen aus Afrika ausgestellt worden sind, zum anderen, weil die Gestaltung genug Anlass zur Konsumkritik gibt.
Herr Ruge-Hochmuth, vor 125 Jahren fand in Teilen des heutigen Clara-Zetkin-Parks die Sächsisch-Thüringische Industrie- und Gewerbeausstellung, kurz STIGA, statt. Sie sind der Leipziger Experte für diese Ausstellung und haben das Jubiläumsjahr mit koordiniert. Wie wird man Experte für eine Ausstellung?
Ich habe mich schon seit meiner Schulzeit mit der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung 1897 zu Leipzig – die heute kurz STIGA genannt wird – beschäftigt. Damals habe ich angefangen, Ansichtskarten zu sammeln und mich gefragt, was es mit dieser Ausstellung auf sich hat.
Ich schrieb erste Belegarbeiten, später auch meine Diplomarbeit und schließlich auch meine Dissertation dazu. In jedem Fach, was ich studierte, habe ich immer wieder Ansatzpunkte gefunden, mich damit zu beschäftigen. Das liegt daran, dass dieses Thema sehr interdisziplinär ist. Man kann immer neue Fragen stellen und neue Zugänge finden.
Schon vor einigen Jahren habe ich eine Art Gutachten für das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst zu diesem Thema geschrieben. Die Frage war, welche Rolle die STIGA und weitere sächsische Ausstellungen im Rahmen der Industriekultur spielen und wie sie diese Industrielandschaft geprägt haben.
Nehmen Sie uns mal mit in das Leipzig des Jahres 1897.
Leipzig hatte nicht weniger Probleme, als wir sie heute haben. In wenigen Jahrzehnten ist Leipzig sehr stark gewachsen und wandelte sich von einer reinen Handels- zur Industriestadt. Eingemeindungen, Industrieansiedlungen und Bevölkerungszuzug stellten wie heute die Infrastruktur vor Herausforderungen.
In Sichtweite der Ausstellung begann man beispielsweise zeitgleich, die alte Pleißenburg abzutragen und als Symbol einer neuen großstädtischen Verwaltung, das Neue Rathaus mit dem höchsten Rathausturm Deutschlands zu bauen. Die Messe feierte die vierhundertjährige Verleihung des Messprivilegs und wandelte sich gerade von einer Waren- zur Mustermesse. Man musste sich etwas einfallen lassen, um als Wirtschaftsstandort attraktiv zu bleiben.
Man hatte erkannt, dass man sich dem urbanen Wettbewerb stellen und die regionale Wirtschaft fördern muss. Dies gelang auch mit Ausstellungen wie der STIGA. Sie ermöglichte als Kollektivausstellung ausdrücklich die Teilnahme klein- und mittelständischer Unternehmen.
Wobei die Hälfte der rund 3000 ausstellenden Unternehmen aus Leipzig kam, wo zu dieser Zeit 90 Prozent der Firmen nicht mehr als 10 Angestellte hatten. Allerdings war klar, dass dies nur im Verbund mit der sich formierenden Region „Mitteldeutschland“ funktionieren konnte. Diesen Raum mit Sachsen und Thüringen als Kernländern repräsentierte die STIGA.
Für Leipzig barg dies die Möglichkeit, sich von seiner sächsischen Randlage ins Zentrum dieser Großregion zu rücken. So formulierte der damalige Leipziger Oberbürgermeister Otto Robert Georgi in der Eröffnungsrede der STIGA dann auch: „Nicht für unsere Stadt haben wir sie unternommen, wir haben uns in den Dienst des mittleren Deutschland stellen wollen“.
Was konnte man auf dieser Ausstellung erleben und wer besuchte diese?
Die Organisatoren wollten nicht nur Bürgertum und Angestellte, sondern alle sozialen Schichten mitnehmen. Dazu gehörte insbesondere auch die wachsende Schicht der Arbeiterinnen und Arbeiter, die in eine industrialisierte und technologisierte Zukunft mitgenommen werden sollten.
Aus diesem Grund wurden auch an vielen Stellen Fertigungsprozesse und „Maschinen im Betrieb“ vorgestellt und von Ingenieuren erläutert. Der Dampf der zahlreichen Dampfmaschinen wurde in einer „Kraftzentrale“ in Strom umgewandelt und dann für die mit tausenden farbigen Glühbirnen inszenierten „illuminierten Nächte“ genutzt. Zahlreiche Tagungen und Kongresse begleiteten die Ausstellung.
Neben dem technischen Verständnis sollten die Ausstellungen aber auch der „Geschmacksbildung“ dienen, also die Konsumenten ästhetisch schulen. Wie auf allen größeren Ausstellungen fanden sich auf der STIGA daher Kunstobjekte in enger Nachbarschaft zu Fabrikerzeugnissen. Die STIGA hatte sogar eine eigene Kunstausstellung, auf der Lokaltitan Max Klinger dominierte.
Das Ausstellungsgelände selbst war in seiner Gestaltung eng an die Weltausstellungen in London, Paris, New York oder Wien angelehnt. Die dominante Hauptallee zieht sich vom Haupteingang mit seinen Obelisken, an einem Bassin vorbei über eine repräsentative Brücke und läuft auf eine Haupthalle zu. Als eines der Superlative durfte selbst der Ausstellungsteich mit seiner 40 Meter hohen illuminierten Fontäne nicht fehlen.
Neben Maschinen wurden auf der STIGA allerdings auch Menschen ausgestellt. Inwieweit spielte das im Jubiläumsjahr eine Rolle?
Die Organisatoren der Ausstellung haben die Völkerschau als einen Erfolg verheißenden Punkt gesehen, weil er Besucher bringt. Man hatte sich ganz genau angeschaut, wie es 1896 bei der Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park lief, als es ebenfalls eine Völkerschau gab, die viele Zuschauer anlockte.
Freilich haben sich die Organisatoren dabei auch mit den kolonialpolitischen Ideen und rassistischen Vorstellungen ihrer Zeit gemein gemacht. Allerdings war dieser Teil der Ausstellung, wie andere Unterhaltungsangebote, privat organisiert und musste sich um Teilnahme bewerben.
Dabei haben die Ausstellungsgremien zuerst auf die Wirtschaftlichkeit des Vorhabens geschaut. Mit über 600.000 Besuchern wurden diese Erwartungen auch erfüllt, dies heißt aber auch, dass die Mehrheit der 2,4 Millionen Gäste diesen Ausstellungsteil nicht besucht hat.
Auch in der zeitgenössischen Presse oder der täglich erscheinenden Ausstellungszeitung spielte diese Unternehmung keine dominante Rolle. Dies schmälert freilich weder das Empfinden der Ausgestellten noch die Wirkung auf die Ausstellungsgäste. Die Gegenüberstellung von vermeintlich „zivilisiert“ und „unzivilisiert“ hätte nicht stereotyper sein können. Vereinzelte Stimmen aus dem Bildungsbürgertum hatten schon zu dieser Zeit Bauchschmerzen bei solcherart Inszenierungen.
Für einen Großteil der Menschen waren Urlaubs- oder gar Fernreisen unerreichbar und so weckte die Schau auch ihre Neugier auf das „Fremde“. Mehrere Initiativen haben sich im Projektjahr sehr intensiv mit diesem Aspekt auseinandergesetzt. Die Stadt Leipzig unterstützte dies engagiert und weihte eine Stele im Park ein, die dies in den Blickpunkt rückt.
Woher kamen die ausgestellten Menschen und vor allem: Wie kamen sie ins Deutsche Kaiserreich?
Die 47 ausgestellten Menschen kamen von vier verschiedenen Stämmen aus der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Dorthin war der Gesandte Karl Kaufmann zur „Anwerbung“ geschickt worden. In welcher Form Verhandlungen stattfanden oder Verträge aussahen, kann nur vermutet werden. Damalige kolonialpolitische Akteure wie Hermann von Wissmann oder Eduard von Liebert, Gouverneur der Kolonie, standen hinter dem Vorhaben.
Was mit den Menschen weiterhin geschah, ist mir nicht bekannt. Es sind aber auch Menschen durch Krankheiten verstorben. Eine Initiative um die AG Postkolonial hat sich der Aufarbeitung dieses Kapitels verschrieben und spricht von vier verstorbenen Menschen. Mir sind diese Quellen allerdings noch nicht bekannt.
Wo befand sich die Völkerschau auf dem Ausstellungsgelände?
Vom heutigen Kreisverkehr oder Rondell ausgesehen, gleich im linksseitigen Bereich. Der Teil zog sich bis zum heutigen Glashaus hin.
125 Jahre STIGA, das Jubiläumsjahr ist fast vorbei. Was wird noch passieren?
Es werden noch einige Sachen publiziert. So erscheint in Kürze von Anne Roßburger ein Buch zu den Spuren der STIGA und ich selber publiziere noch im Rahmen des Tagungsbands des Tags der Stadtgeschichte. Ich habe mich dieses Jahr fast heiser geredet, es war stellenweise ein Vortragsmarathon, ich habe teilweise drei Tage hintereinander zum Thema referiert. Natürlich habe ich ein gewisses Grundwissen, aber der Fokus der jeweiligen Zielgruppe war dann doch immer ein anderer.
An der HTWK sind nachhaltige Dinge von Studierenden entstanden, zum Beispiel unsere Internetseite, die wir weiterentwickeln werden, oder eine gefragte Wanderausstellung. Die STIGA-Projekte waren ein Startschuss. Hier zeigte sich, wie sich konstruktive Netzwerke zwischen ganz unterschiedlichen Partnern innerhalb der Stadt einem Thema zuwenden und miteinander ins Gespräch kommen.
Wir als Hochschule haben allein davon unglaublich profitiert und glauben, dass es viele anschlussfähige Vorhaben gibt. Die Auseinandersetzung mit der STIGA hat vielen erstmals zumindest ansatzweise die Bedeutung dieser und folgender Ausstellungen, besonders der IBA 1913 und der BUGRA 1914, für die Stadtentwicklung verdeutlicht. Viele Menschen, mit denen ich ins Gespräch kam, waren regelrecht verblüfft.
Im Internet: https://stiga-leipzig.de/
„125 Jahre STIGA – Konsum(-)Kritik und Konkurrenz im König-Albert-Park“ erschien erstmals am 16. Dezember 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 109 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.